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 © Marco Piecuch

Rhein­gelesen

Neue Stücke braucht das Land!


Theater soll vor allem eines: Geschichten erzählen! Doch die müssen auch erst einmal geschrieben werden. Das szenische Schreiben ist eine Kunstform, die häufig neben all den anderen künstlerischen Berufen wie Schauspiel und Regie in Vergessenheit gerät. Insbesondere für Nachwuchsdramatiker:innen ist es nicht leicht, einen Einstieg in den Beruf zu finden und eine Plattform mit Reichweite für die eigenen Texte zu bekommen. Also haben wir uns gedacht: Warum nutzen wir nicht die Reichweite unseres Theaters, um so ganz bewusst Raum für neue Dramatik zu schaffen? Und: Ganz uneigennützig ist die Sache ja nicht, denn die Arbeiten von Sean Keller, Fabienne Dür, Lilli Roesing, Fayer Koch und Kamil »Demian« werten die Theaterwelt enorm auf. Oder? Unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft oder Identität haben wir Werke von Autor:innen gesucht, die am Anfang stehen. Uns haben über 60 Einsendungen erreicht – und hier sind unsere Favoriten.
Und jetzt seid ihr dran: Ihr habt die Möglichkeit, eure Favoriten unter den folgenden Stückausschnitten zu wählen. Am Ende der Spielzeit präsentieren wir diese dann in voller Länge und Schönheit bei einer Live-In-Szene-Setzung (die Form passen wir dem Stoff an!) auf unserer Bühne.

Wie? Schickt einfach eine Mail an marketing@rlt-neuss.de mit dem Betreff "Stückanfänge" und eurem Lieblingsstückanfang (Titel/Autor)!

 

Sommer im Wildpark. Ferienjobber*innen, Saisonkräfte und Teilnehmer*innen eines Resozialisierungsprogramms treffen auf paarungsunwillige Braunbären, flüchtige Dachse und lethargische Silberfüchse. Im ganzen Land sterben Menschen bei mysteriösen Wildunfällen, aber das scheint hier noch niemanden so recht zu kümmern. Zwischen Waschbeton und Souvenirstand, TikTok und Wildbratwurst - »vom Holzkohlegrill, aus eigener Aufzucht“ - strugglen alle vor sich hin. Hin und wieder versperrt ein Pfau die Wege. Ein paar Kilometer weiter brennt der Wald. Und wir schauen zu. Die Sonne steht senkrecht, nichts hat mehr einen Schatten. Es ist die Zeit der großen Mittagsstille. Wir glauben kurz, wir riechen Feuer, aber wenn wir versuchen, uns darauf zu konzentrieren, ist da nichts.
– Mahlzeit
– Mh-Mh

Hier einfügen: Fetzen von Smalltalk und Titel von Insta-Reels


– Hast du das schon gesehen?
– Mhm
– Nee
– Vorhin erst gelesen
– Was war da?
– Die Heidi vom Echo hat mich grade angerufen
– rauchen die mal wieder ein süßes Tierbaby?
– Die hat gefragt, ob hier in letzter Zeit irgendwelche komischen Dinge passiert sind
– Wegen dem Martin?
– Zum Glück nicht. Nee. Ob hier jemand gestorben ist
– Was?
– Das wüssten die doch eher als wir
– Was war denn da jetzt?
– Da hat ’n Wolf wohl zwei Tierschützer zerfleischt
– Im Ernst?
– Haha. »Tierschützer«, ey
– Woher weißt du denn überhaupt, dass es Tierschützer waren?
– Hat er doch grade gesagt
– Könnten doch genauso gut Wilderer gewesen sein
– Das sieht man doch schon an der Kleidung
– Und was hat das jetzt mit uns zu tun?

Würden sie nach oben schauen, sähen sie einen Milan kreisen.


– Die hatten wohl irgendwelche Zettel oder ein Banner dabei, wo was draufstand von wegen »Das ist erst der Anfang« oder so
– Dann ist das Problem doch schon gegessen
– Alter
– Düster
– Was denn?
– Hat sie doch recht
– Vielleicht waren’s ja nicht nur zwei
– Und du meinst, die spazieren jetzt als nächstes bei uns rein
– Und dann? Lassen sie sich von nem Nutria die Finger anknabbern?
– Du weißt schon, dass wir auch Bären haben?
– Die würden einen doch nicht mal fressen, wenn man nackt und gefesselt vor ihnen liegt
– Dich würde ich auch nicht fressen, wenn du nackt und gefesselt vor mir liegst
– Das ist Mobbing
– Das ist die Wahrheit
– Leute, bitte
– Ich hab nicht angefangen
– BITTE. Ich denk, es ist schon klar, dass die nicht vorhatten, sich fressen zu lassen
– Wer weiß
– Sondern
– Keine Ahnung
– Das ist ja das Problem
– Wo soll denn da das Problem sein?

– Der Punkt ist einfach: wir wissen’s nicht. Vielleicht waren’s bloß zwei Deppen und die Sache ist jetzt gegessen, vielleicht waren’s mehr und ihre Kumpels haben jetzt Schiss vor Tieren bis an ihr Lebensende. Kann alles sein. Kann aber auch sein, dass wir hier morgen so ein paar gelangweilte Studenten an unsren Elchen kleben haben
– Und dann?
– Dann hab ich keinen Bock auf schlechte Presse
– Willst wohl doch noch Bürgermeister werden
– Warum sollten die denn ausgerechnet auf uns kommen?
– Hast du wieder irgendwas komisches gepostet?
– Das hab ich ihn vorhin auch schon gefragt
– Das stand in der Zeitung
– Wer liest denn bitte noch Zeitung

Reon geht, ohne sich umzudrehen. Die Hälfte der Belegschaft ist schon wieder am Handy. Mit nassen, fettigen Fingern tippt man allerlei Blödsinn.

– Ich wusste es
– Was?
– Dass sowas passiert
– Heute Morgen bei der Schichtaufteilung waren wir zu dreizehnt. Das war klar, dass das noch Ärger gibt.

Inzwischen hat der Wind die Richtung gewechselt. Jetzt riechen wir das Feuer aber wirklich.

(Der Titel stammt aus dem Gleichnamigen Lied von Hope Tala)

Es ist schon nach Mitternacht.
Die Trainerin schlägt auf einen Boxsack ein,
sodass es durch den ganzen Raum hallt.
Eins
Zwei
Schneller
Einszwei
schneller
einszweieinszweieinszwei
Die Trainerin schlägt auf einen Boxsack ein,
sodass es durch den ganzen Raum hallt.
Plötzlich hallt noch ein Schlag durch den Raum
Die Tür
schlägt zu
trainerin: Gut, dass du kommst
lya: Ja?
trainerin: Oh, ich dachte du wärst jemand
anders
lya: Oh.
Eins
Zwei
trainerin: Suchst du was?
lya: Ne, nicht
Einszwei
trainerin: Training war um neun vorbei
lya: Ist das so?
mitglieder im studio:
Wenn wir den Boden einer Glasflasche an
unsere Brust halten und unser Ohr dann an die
Öffnung, Hören wir unser Herz, wie durch ein
Stethoskop
Einszweieinszweieinszwei
Die Trainerin schlägt unbeirrt weiter
Lya steht in der Tür
Die Trainerin schlägt weiter
Und Lya steht in der Tür
lya: ich will mich einschreiben
trainerin: Was?
lya: ich will mich hier bei ihnen einschreiben
trainerin: Und das konnte nicht bis morgen
warten?
lya: nein
trainerin: Wir haben für heute zu
lya: Es kann ja wohl nicht so schwer sein,
mich einzuschreiben
trainerin: Wir haben zu. Punkt
Einszweieinszweieinszweieinszweieinszweieinszweieinszweieinszweieinszweieinszwei
Schritte von Lya Richtung Tür
Tür knallt
Einszweieinszweieinszweieinszweieinszweieinszweieinszweieinszweieinszweieinszwei
Tür öffnet sich
Schritte von Lya zurück
Lya steht vor dem Boxsack
mitglieder im studio:
Wenn wir den Boden einer Glasflasche an
unsere Brust halten und unser Ohr dann an die
Öffnung, hören wir unser Herz, wie durch ein
Stethoskop
lya: Ich will mich JETZT anmelden. Heute
Nacht auf dem Nachhauseweg habe
ich zwei Typen geboxt. Mit Kinnhaken
und Schulterwürfen
trainerin: Wirklich. Soll ich wen anrufen?
lya: Ne
trainerin: Okay. Aber, Respekt. Wo hast du
gelernt? Klingt als könnten wir dir hier
gar nichts mehr beibringenlya: Ich war ja noch nicht fertig. Der dritte
hat mir von hinten in den Rücken getreten.
Ich hab ihn gar nicht kommen
sehen. Weiß nicht woher der kam
Lya rollt ihre Ärmel hoch
Und die Trainerin sieht ein paar
blaue Flecken
an ihren Armen
lya: ich war nicht auf Zack
Lya hält Tränen zurück.
Die Trainerin bindet sich die Boxbandagen ab
trainerin: Du kannst hierbleiben, bis ich gehe
mitglieder im studio:
Wenn wir uns streiten
Oder- wenn du dich streitest
Mit mir
Dann ist das ziemlich einfach
es ist ziemlich einfach, wenn du die ganze Zeit
redest
Es ist ziemlich einfach, wenn ihr die ganze Zeit
auf uns einredet,
euch vom Herzen redet, was so anstrengend ist,
an uns
euch vielleicht mal kurz im Ton vergreift
Uns unterbrecht
euch versehentlich die Hand ausrutscht
Ihr leider etwas lauter werden müsst
Ja, auch wenn wir in der Öffentlichkeit sind, tut
euch leid...
Das ist ziemlich einfach
wenn ihr versehentlich, manchmal , ab und zu
mal etwas impulsiv seid
weil...
weil...
weil...
wenigstens seid ihr nicht nachtragend
oder so
Die Trainerin schaut auf die Uhr
lya: Wartest du auf jemanden?
trainerin: Schon, ja
lya: Auf wen?
trainerin: Meine Freundin
lya: Holt sie dich ab?
trainerin: Ja
lya: Es ist schon nach Mitternacht
trainerin: Ich weiß
Die Trainerin wartet
Lya wartet mit
mitglieder im studio:
Wenn wir den Boden einer Glasflasche an
unsere Brust halten und unser Ohr dann an die
Öffnung, Hören wir unser Herz, wie durch ein
Stethoskop
lya: Kann ich auch mal Boxen?
trainerin: Was ist wirklich passiert?
Lya boxt
Lya boxt weiter
Lya boxt weiter und stellt sich vor, dass … ETC.

Szene 2

mo guck mal
mo guck mal
leo was? Schnee?
mo da zwischen den Bäumen
leo wo?
mo da
am Waldrand
leo das ist ein Park
mo guck, da ist es wieder
das Glitzernde da
was ist das?
leo ich seh nichts
mo na da
leo da ist nichts
mo das Glitzernde da
wie tausend Schuppen
vielleicht ist das ein Fischmensch
leo sowas gibt es nicht
mo oder ein Dinosaurier
leo gibt es auch nicht
mo aber gabs mal
leo ich weiß
mo kannst du fragen, ob wir rausgehen können?
leo das ist kein Ort für Kinder
mo Leo war mal mit der Schule dort
Blättersammeln
es gibt dort wilde Schweine
leo Wildschweine
mo die sind gefährlich
leo nur wenn sie Jungtiere haben
wenn man denen zu nah kommt, beschützen
die Mütter die und werden sauer
mo und die Väter?
leo die bestimmt auch
mo können Wildschweine glitzern?
leo –
vielleicht war das ein Schmetterling
mo das war viel größer
guck, da ist es wieder!
es ist riesig
und es hat ganz viele Augen und Arme
und spitze Zähne eine Glitzerkrake!
leo du spinnst
mo was soll es sonst sein?
leo keine Ahnung, eine kaputte Discokugel
mo eine Discokugel kann nicht laufen
leo konzentrier dich auf den Himmel
mo es schneit doch eh nicht
leo du hast es versprochen
mo jetzt ist es weg
leo vielleicht wurde es gefressen
mo du bist doof
leo bin ich nicht
mo doch
leo nein
mo doch
leo nein
mo doch
leo nein
mo ich wette, es ist eine Glitzerkrake
leo sowas gibt es nicht
mo doch, in Märchenwäldern
leo ja, ok
mo und das ist auch ein Wald
leo das ist ein Park
mo aber da stehen Bäume
leo ja, aber nur so fünf
ein Wald braucht mindestens zehn
wissen alle
mo das ist eine Glitzerkrake
ganz einfach
und das heißt, ich hab jetzt drei Wünsche
frei
leo das gilt nur bei Feen
mo nein, das ist allgemein, das Märchenwesen-
Ministerium hat das jetzt geändert
leo ja, klar
mo wirklich
Mo macht eine Show draus:
ich wünsche mir, dass die Krake meine
Freundin wird, Spaghetti Bolognese und
dass es bald schneit für Leo
kannst du Papa fragen, ob wir rauskönnen?
leo er sagt eh nein
Papa sagt immer nein
mo bitte
leo frag ihn doch selber
mo ok
Mo geht raus, kommt sofort wieder.
mo er hat ja gesagt
leo ja, klar
mo "aber nur kurz"
ich muss kurz was holen
Mo geht raus.
leo als wir alles in den Umzugswagen geräumt
haben, hat es geschneit
große, klumpige Flocken
wenn man den Kopf in den Nacken legt
Sie macht es, streckt die Zunge aus:
und in dieses Trudeln guckt, ist das besser
als Karussellfahren
Schnee fällt nicht wie Regen
er lässt sich Zeit und guckt sich auf dem
Weg alles an
und die ganze Welt ist plötzlich ruhig
alles hält an
wie Stopptanz
ich stand mit Papa im Schnee und wir
haben nach oben geguckt
ewig
und ewiger
die Umzugsfirma hat alles in den Wagen
geräumt
wir haben einfach nur geguckt
Papa ist anders, seit wir hier sind
seit wir hier sind, ist Papa ist wie Regen
Mo kommt wieder rein.
mo tada!
leo was ist das?
mo eine Krakenfalle
leo das ist unser Nudelsieb
mo das ist eine Krakenfalle
leo du kannst nicht unser Nudelsieb mitnehmen
mo warum nicht?
komm, wir gehen
leo –
mo hast du Angst oder was?

PROLOG

VIDEOTAPE by RADIOHEAD

die ferne: Das Individuum ist krank. Es hat sich mit Menschlichkeit angesteckt. Das Individuum untergeht daher eine Bihandlung in Form eines Psychodramas.
adam: Glaubst du, das ist eine gute Idee?
junge: Irgendwann mussten wir doch zusammen zurück.
Adam kommt mit einem Jungen nach Hause, Kopfhörer um seinen Hals. Beide ziehen die Schuhe aus und gehen in Adams Zimmer. Er schmeißt seinen Rucksack in die Ecke und schließt die Zimmertür. Dann dehnt er sich, und der Junge lehnt sich an den Schreibtisch. Die Tür geht auf. Es ist Adams Mutter.
mutter: Warst du heute in der Schule?
adam: Ja klar. Da ist doch mein Rucksack.
mutter: Der Weg zu deiner Schule dauert 33 Minuten mit der U-Bahn und S-Bahn und 12 Minuten zu Fuß, also mindestens 45 Minuten. Heute bist du aber schon nach 32 Minuten zuhause.
adam: Ja, das macht Sinn. Wenn ich von der Schule zurückkomme, dauert’s kürzer. :]
mutter: Wieso?
adam: Weil ich dann den Weg schon kenne. Junge ^_^
mutter: Aha. >:-| Gut, das werden wir morgen sehen — wie gut du! den Weg zur! Schule kennst. Schließt die Tür.
junge: Du bist tief am Arsch, mein Lieber.
adam: Wie tief?
junge: Bei dem! Arsch wär’ Nicki Minaj eifersüchtig.
adam: Pf! Aber wieso ruft sie die Schule nicht
heute an?
junge: Weil heute ihr Geburtstag ist.
adam: Hä? Wirklich?
junge: Spaß. Woher soll ich es wissen? Musst
du doch.
adam: Ja, stimmt. Ich weiß es aber auch nicht.
Es ist mir aber auch egal, wann ihr Geburtstag
ist. Genauso wie mein eigener
oder von irgendjemand anderen. Ich
feiere meinen nicht, seitdem ich 11 bin,
seitdem wir in Berlin sind. Also schon
seit… 3 Jahren. Aber wieso sollte man
auch Geburtstage feiern? — Ein Jahr
näher zum Tod.
junge: »Jeder Geburtstag — nur ein Jahr näher
zum Tod« — Epitaph des Edgelords.
adam: Pf! :D Sagt der Cringige!
Die Tür geht plötzlich auf. Es ist wieder Mutter.
mutter: Mit wem sprichst du denn hier?
adam: Ähm… Merkt seine Unkopfhörerigkeit.
Mit dem Skelett im Schrank. :)
mutter: Astaghfirullah, du wirst ja nach jedem
Tag noch bescheuerter. Zieh dich um,
wasch deine Hände und iss. Danach
machst du deine Hausaufgaben. Oder
hast du auch heute! — keine bekommen?
adam: Doch. Heute hab’ ich ein paar bekommen.
In Mathe und Deutsch. In Deutsch
haben wir ein Buch angefangen, und
das müssen wir zuhause weiterlesen.
junge: Das Buch hast du doch selbst in der
Bibliothek gefunden, Habibi. -.-
mutter: Gut. Dann mach es. Schließt die Tür.
junge: Du musst lernen, lautlos mit mir zu
sprechen.
adam: Okay. Ich bin heute in die Schule gegangen
— nicht!
junge: Lauter.
adam: Ich hab’ Schule im Park geschwänzt.
junge: Lauter!
adam: Machen wir diese eine Szene aus »500
Days of Summer« nach oder was?
Okay… ICH-HABHEUTE-
SCHULE-IM-PARK-ZU-RADIOHEAD-
GESCHWÄÄÄÄÄNZT!..
junge: Stabil, Habibi, ;] ich küsse deine Gehirnzellen,
ja. Brofist. Geh essen.
adam: Gleich, aber zuerst :nimmt ein Messer
aus seinem Rucksack raus. Was soll ich
mit dem Messer machen?
junge: Na ja. Trag ihn in der Socke, wenn
du rausgehst; wie es Bilal dir gezeigt
hat. Ansonsten kannst du es unter der
Matratze verstecken.
Adam folgt dem Rat und geht essen.
Adam setzt sich mit seinem Handy und Kopfhörern
an den Küchentisch. Essen ist da. Mutter
setzt sich auch. Adam isst, auf seinem Handy
scrollend. Junge sagt die ersten vier Sätze der
Mutter vor.
mutter: Wie war’s heute in der Schule?
adam: Gut.
mutter: Hast du alles verstanden?
adam: Ja.
mutter: Wie geht es deinen Freunden?
adam: Ha? Welchen Freunden?
mutter: Schulfreunden. Junge prustet.
adam: Ich hab’ keine Schulfreunde.
mutter: Immer noch keine?
adam: Immer noch keine.
mutter: Das ist bestimmt nicht deine Schuld,
Adam. Du bist ein guter Junge und du
hast tschetschenische Freunde, die
auch gute Jungs sind. Das reicht schon.
adam: Für mich reicht es nicht.
Adam steht auf, ohne zu Ende gegessen zu
haben.
Adam schläft ein. Aber er sieht Alpträume,
schwarz-rote: Schüsse und tote Menschen, viel
Blut und Dunkel.
(FAST 6 JAHRE FLIEßEN VORBEI)

 

Zweite Szene/ Die Familie

Eine Familie in einem Auto. Hinten, auf der Stoßstange des Autos, kleben harmonische Sticker - die Namen der Kinder oder das Piktogram einer Familie Hand in Hand. Im Inneren des Autos herrscht ein authentisches Strahlen. Alle zeigen ihre makellosen Zähne. DER VATER streichelt DIE MUTTER. DIE MUTTER streichelt eines der KINDER. DIE KINDER streicheln sich gegenseitig und alle miteinander - MUTTER, VATER, KINDER, sind sie am verkörpern. Ja! Man kann die Familie nicht anschauen, ohne an eine andere, bessere Zeit zu denken (eine Zeit, die es so vielleicht nie gegeben hat, aber die gerade deshalb in unser aller Erinnerungen weiterlebt). 
der vater: Könnt ihr mich hören?
die mutter: Wir hören dich gut.
der vater: Dann hat ja alles seine Richtigkeit.
die mutter: Hat es. Wir sind eine Familie im Auto.
der vater: Ich bin ein Vater, der ein Auto lenkt.
die kinder: Wir sind auch da. Wir sind Kinder.
die mutter: Und wir sind alle am - was machen wir?
die kinder: Rausgucken.
die mutter: Schwitzen. Oder, meine Lieben?
die kinder: Stimmt ????
die mutter: Eine schwitzende Familie auf dem Weg ans Meer.
die kinder: Das Meer!!! Jaaaaa!!!
die mutter: Was bin ich glücklich, dass ihr glücklich seid.
die kinder: Wir sind doppelt glücklich. Erstmal einfach so, und zusätzlich weil dich unser Glück so beglückt.
die mutter: Ach, Schatzibär. Ich streichel dir ganz zufrieden über deinen feuchten Rücken.
der vater: Es ist ein unwahrscheinliches Privileg, was wir haben. Das dürfen wir nie vergessen.
die mutter: Das sollten wir immer erinnern, stimmt. Gerade in Zeiten wie diesen, wo Glück ja leider für die große Mehrheit Mangelware ist.
die kinder: Wie ist das gemeint?
der vater: Da müsst ihr euch als Kinder, würde ich sagen, keine Gedanken drüber machen, wie das gemeint ist.
die kinder: Die Brutalität der Gegenwart ist uns ja noch nicht oder höchstens teilweise bewusst
der vater: Genau so soll es auch bleiben, finde ich. Oder siehst du das anders, Schatzibär?
die mutter: Ich sehe es genauso. Man muss bloß aufpassen, dass aus dieser Haltung keine Ignoranz erwächst.
der vater: Ach. Ich guck dich verliebt an. Das hätte ich nicht besser sagen können.
die mutter: Ich denke oft: Wie viele Leute doch ihre Augen verschließen vor dem, was um sie rum passiert.
der vater: Vielleicht machen wir mal die Klimaanlage an. Wenn ich uns so angucke als Familie. Nicht dass wir in unserem eigenen Schweiß ertrinken wie ein pazifischer Inselstaat ????
die mutter: Ich mach mal ein Geräusch.
die kinder: Sind wir eine Familie aus der Zukunft?
der vater: Natürlich sind wir eine Familie. Ich bin ein Vater.
der vater: Und ihr seid, glaube ich, Kinder.
die mutter: Zukunft. Die Gegenwart der einen ist doch die Zukunft der anderen.
die kinder: Ach so.
die mutter: Und für wieder andere ist die Gegenwart die Vergangenheit.
die kinder: Logisch.
die mutter: Bloß unsere Gegenwart wird, wie es aussieht, abweichend von diesem Prinzip von niemandem die Vergangenheit sein.
der vater: Schatzibär - ich werf dir mal einen vielsagenden Blick zu.
die mutter: Na, wir fahren ja aus einem Grund an die Küste.
die kinder: Wegen dem Strand.
der vater: Wir wollen uns jetzt nicht vorzeitig die unbeschwerte Stimmung vermiesen.
die mutter: Ich spür sie noch in mir, die schöne Stimmung.
der vater: Ich auch. Und vielleicht, das sag ich jetzt im Flüsterton zu dir, kommen wir nach Dämmerungseinbruch zusätzlich noch in eine ganz andere Stimmung.
die mutter: Oh, da flüster ich dir aber mal gleich zurück, wie gerne ich das haben würde.
mutter und vater: [verlegen kicherndes Gesicht Emoji]
die kinder: Oder nicht?
die mutter: Was?
die kinder: Wegen dem Strand.
die mutter: Ja.
die kinder: Jaaaaaa!!!
die mutter: Aber es gibt noch noch einen zweiten Grund.
der vater: Dong!
die mutter: Wir gucken einen Eisberg an.
die kinder: /Jaaaaaa!!!
der vater: Schatzibär.
die mutter: An der Küste vor Berlin.

der vater: Ich hab die Stimmungsglocke geläutet.
die mutter: Der Papa hat eben die Stimmungsglocke
geläutet. Jetzt sind wir mal
still und hören uns an was da der
Anlass für war.
der vater: Ich empfinde es als ziemlich laut
hier drin und würde mich freuen,
auch weil ich mich ja aufs Lenken
konzentrieren muss, wenn wir das
Gequassel gerade mal einen Gang
runterschalten.
die mutter: Dem Papa ist das gerade zu viel
Gequassel. Könnt ihr da was mit
anfangen, Kinder?
die kinder: Ja.
die mutter: Was sagen wir dann?
die kinder: Danke für dein Feedback, Papa.
der vater: Gern geschehen.
.
die mutter: Zeit mit den Liebsten.
der vater: Das ist immer ein Geschenk, Zeit
mit den Liebsten.
.
Und dass wir diese Thematik jetzt
vielleicht nicht ausbreiten hier.
die kinder: Hallo was wird da geflüstert?
die mutter: Ich hab nur gesagt, dass wir zu
einem Eisberg fahren.
der vater: Wir haben viel gearbeitet. Und da
haben wir uns diesen Urlaub verdient.
die mutter: Es ist kein Urlaub.
der vater: Es ist kein Urlaub, ich wollte sagen
»Reise«.
die mutter: Es ist ein absolut trauriges Ereignis.
.
Es macht mich sehr betroffen.
der vater: Es macht mich ebenfalls sehr betroffen.
.
Und mein Bedürfnis ist, dass wir
trotz der Traurigkeit und Betroffenheit
ein bisschen auch die Seele
baumeln lassen.
die mutter: Ich glaub nicht, dass ich da mitbaumeln
kann.
.
die kinder: Warum ist der in Berlin, der Eisberg?
Wir dachten, die wären am Nordpol.
die mutter: Schatzibär?
.
Sie haben ihn dort hingeschleppt.
die kinder: Wer?
der vater: Es ist schon wieder eine /Geräuschkulisse.
die kinder: Die Tiere dann auch?
die mutter: Nur die normalen Tiere.
der vater: Dong. Ding-Dong.
die kinder: Und die /besonderen Tiere?
der vater: Schatzibär -
die mutter: Die sind tot.
der vater: Ich /hab gerade -
die kinder: Die Eistiere?
der vater: Ding-Dong.
die kinder: /Tot?
der vater: Ihr Lieben. Hallo.
.
die mutter: Ich höre du hast die Stimmungsglocke
geläutet, Schatzibär?
der vater: Ich hab die Stimmungsglocke geläutet,
weil ich dieses Auto fahre.
Und ich bin eben ein bisschen
empfindlich beim Thema - Geräuschpegel.
Wir sehen den Eisberg
bald, und da können wir dann alles
dazu besprechen. Bis dahin würde
ich mir einfach wünschen, dass wir
erstens ein bisschen piano machen,
und dass wir zweitens darauf achten,
wenn eine oder einer von uns
die /Stimmungsglocke -
die kinder: Was ist das?
der vater: Die Stimmunglocke läutet, Entschuldigung,
dass wir /dann ruhig sind.
die kinder: Hört ihr das?
der vater: Anstatt einfach weiterzureden.
die kinder: Wir werden blass. Wir haben Angst.
der vater: Ich fahr mal das Fenster hoch.
die mutter: Ihr seid ja ganz blass.